2020 hat das Messeland Deutschland hart getroffen. Im Gespräch zu Industriemessen im Rahmen meines Podcasts bestätigte mir die Messeexpertin Sylvia Kanitz vom Verband der deutschen Messewirtschaft (AUMA), dass sie in all den Jahrzehnten ihrer Tätigkeit eine derartige Disruption noch nicht erlebt habe. Insgesamt wurden laut Auma mehr als 70 % aller für das Jahr 2020 geplanten Messen in Deutschland abgesagt oder verschoben. Aktuelle Informationen zu allen wichtigen Messeterminen in Deutschland finden sich hier. Auch im ersten Halbjahr 2021 erwarte ich noch keine Erholung. Denn selbst wenn Messen behördlich wieder erlaubt und mögliche Impfungen langsam anlaufen werden, dürfte es aus meiner Sicht zunächst schwierig werden, Aussteller und Besucher zu überzeugen, ein physisches Event zu besuchen.

Im folgenden Beitrag reflektiere ich mein bereits angesprochenes Gespräch mit Sylvia Kanitz und den vom Bundesverband Industriekommunikation (BviK) veranstalteten Workshop „Messe 2.0: Vom Quadratmeter zum B2B-Marketing-Kanal“ und ergänze die gewonnenen Erkenntnisse um meine eigenen Erfahrungen und Überlegungen zur Zukunft der Industriemessen in 2021 und darüber hinaus.

Was tun, ohne traditionelle Messen?

Als B2B-Marketingexperte beschäftigt mich natürlich, was diese „Messe-Erosion“ für Industrieunternehmen bedeutet, die Messen bislang als eine der wichtigsten Marketing- und Vertriebskanäle genutzt haben. Deutschland ist ein Messeland. Nach Angaben des AUMA finden in Deutschland jährlich 160 bis 180 internationale und nationale Messen mit rund 180.000 Ausstellern und bis zu 10 Millionen Besuchern statt. Dazu gehören viele der wichtigsten Elektronik- und Industriemessen von globaler Bedeutung wie die Hannover Messe, SPS, Electronica, Embedded World, Sensor & Test oder die Light and Building, um nur einige zu nennen, auf denen wir normalerweise für unsere B2B-Kunden unterwegs sind.

Diese Bedeutung spiegelt sich auch in den Marketingausgaben deutscher Unternehmen wider. Laut verschiedener Studien gaben ausstellende Unternehmen vor Corona in Deutschland zwischen 37 % (Bundesverband Industriekommunikation, BviK) und 49 % (AUMA) ihres Marketingbudgets für Messeauftritte aus. Die Varianz in den Zahlen kommt vermutlich dadurch zu Stande, dass beim AUMA auch B2C-Messen reinspielen und man nicht genau weiß, was jeweils als „Messeausgaben“ gezählt wird. Selbst, wenn man den Mittelwert aus beiden nimmt, wird klar, dass Messen eine zentrale Rolle im Marketingmix deutscher (Industrie-)Unternehmen einnehmen.

2020 wurden die für Messen eingeplanten Budgets entweder komplett eingespart oder in alternative Maßnahmen gesteckt. Ich wage zu bezweifeln, dass die Budgets für traditionelle Messen jemals wieder an die vor-Corona-Zeit heranreichen werden. Es bleibt jedoch zu hoffen, dass der Bedeutungsverlust traditioneller Messen nicht zum Anlass genommen wird, die ohnehin zu niedrigen Marketingbudgets deutscher Industrieunternehmen, noch weiter einzudampfen, sondern dass das Geld in sinnvolle Alternativen investiert wird.

Industriemessen waren bislang für viele B2B-Unternehmen eine der wichtigsten Quellen für neue Leads. Dieser starke Fokus auf Messen als Vertriebskanal hat viele Industrieunternehmen 2020 vor massive Probleme gestellt. Da neben den Messeverschiebungen und -absagen auch physische Kundenbesuche stark eingeschränkt waren, wurde hastig nach alternativen Vertriebswegen gesucht. Vor allem digitale Content-Kampagnen zum Zweck der Leadgenerierung und virtuelle Events bzw. Webinare haben sich hier bewährt.

Es rächt sich jetzt, dass gerade viele deutsche Industrieunternehmen die Digitalisierung jahrelang verschleppt bzw. skeptisch gesehen haben. Vielerorts fehlt es noch an digitaler Infrastruktur, benötigten Skills und entsprechend ausgebildetem Personal sowie einer fundierten digitalen Vertriebs- und Marketingstrategie. Die Tools, über die hierzulande gefühlt am meisten diskutiert wird, sind hierbei eigentlich das geringste Problem.

Ist die Messezukunft virtuell?

Im Corona-Jahr 2020 wurden sowohl erfolgreich physische Messen unter Einhaltung strenger Abstands- und Hygienevorschriften durchgeführt (mit unbekannten Zahlen zur Wirtschaftlichkeit) als auch auf die Schnelle jede Menge virtuelle oder hybride Messe- und Veranstaltungskonzepte aus dem Boden gestampft – mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Zwar hat die Messewirtschaft bewiesen, dass sie agil auf eine noch nie da gewesene Krisensituation reagieren und digitale Events auf die Beine stellen kann, doch längst nicht alle Konzepte konnten Aussteller und Besucher überzeugen.

Das zeigt auch die Umfrage des BviK zu den Auswirkungen von Corona auf das B2B-Marketing, in der nur rund ein Drittel der befragten Unternehmen (N=179 bei dieser Frage) den Besuch von virtuellen Messen in 2020 als gut oder sehr gut bewerteten. 29 Unternehmen fanden ihn gar schlecht oder sehr schlecht. Ich denke, fast jeder von uns hat 2020 an wenig gelungenen virtuellen Veranstaltungen teilgenommen. Dem entsprechend ist die vorherrschende Meinung (90 %) der BviK-Studienteilnehmer, dass digitale Formate die physischen Messen zwar künftig ergänzen, aber nicht ersetzen werden. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass es rein physische Messen, wie wir sie bislang kennen, künftig ebenfalls schwer haben dürften.

Industriemessen im Wandel

Wenn man ehrlich ist, hat Corona den Veränderungsdruck auf die Messeveranstalter, der größtenteils vorher schon existent war, stark erhöht. Man könnte auch sagen, dass 2020 wie im Brennglas gezeigt hat, dass, wie in anderen Branchen auch, digitale Trends und Innovationen im Messewesen lange verschlafen oder zu zögerlich angegangen wurden. Denn Aspekte wie veränderte Besuchererwartungen, das Hinterfragen von Geschäftsreisen, der Trend zu lokalen Messen, Zweifel an der Wirtschaftlichkeit großer Messen für Aussteller, wachsende Konkurrenz durch digitale Events und Plattformen und der Aufstieg von VR/AR hatten bereits vor Corona dazu geführt, dass viele einen Niedergang der traditionellen Messen prophezeit hatten (zum Beispiel Cebit).

Klar dürfte sein, dass eine Rückkehr zum kontinuierlichen vor-Corona-Wachstum und dem branchenüblichen Protzen mit immer größeren Flächen und Besucherzahlen künftig wohl schwer vorstellbar ist. Für einen Abgesang der Messen ist es allerdings auch zu früh, zum einen wegen der enormen wirtschaftlichen Bedeutung und den oft noch unreifen Alternativen, und zum anderen, weil physische Messen immer noch einige Dinge leisten, die selbst durch die besten virtuellen Events bislang nur schwer darstellbar sind. Dazu gehört natürlich der persönliche, physische Kontakt, der uns Menschen extrem wichtig ist (Chemie/Haptik/Emotionen/Stimmung), aber auch die Möglichkeit Exponate anzufassen und in realer Aktion zu sehen. Gerade bei erklärungsbedürftigen, teils sehr hochpreisigen Produkten, ist der persönliche Kontakt und Vertrauensaufbau zum Anbieter besonders entscheidend. Auch das Spontane, das heißt, zufällig an einem interessanten Stand von einem Unternehmen vorbeizukommen, das ich bis dato gar nicht kannte, ist virtuell schwieriger darstellbar, da wir in der Regel nur das finden, was wir in die Suche eingeben. Das undefinierbare Gesamtgefühl eines Events, wo die gesamte Branche in ihrer ganzen Breite und Diversität auf engem räumlichen und zeitlichen Raum gezeigt wird, ist virtuell ebenso schwer zu transportieren – ganz zu schweigen vom geselligen Zusammensein und Austausch mit aktuellen und ehemaligen Kollegen, Wettbewerbern und Bekannten auf Stand-Partys oder After-Show-Veranstaltungen..

Blick in die Zukunft

Da ich ein optimistischer Mensch bin, hoffe ich, dass die Messewirtschaft und die Aussteller aus der Industrie die aktuelle Krise als Chance für Veränderung begreifen. Aktuell ist Wandel in einem Tempo möglich, der vor Corona größtenteils undenkbar war. Was die Veranstalter von Industriemessen aus meiner Sicht tun können/müssen:

  • Sich auf die Stärken von physischen Events besinnen, indem sie das Besuchererlebnis von Industriemessen deutlich aufwerten, verstärkt Möglichkeiten des persönlichen Networkings schaffen und den Erlebnischarakter von Messen in den Vordergrund rücken. In einem virtuellen Kundenevent kann ein Unternehmen nur seine Produkte präsentieren, der Besucher schätzt bei einer Messe aber gerade, dass er die ganze Branche an einem Ort hat, um die Angebote direkt vergleichen und Informationen von verschiedenen Experten einholen zu können.
  • Weggehen vom reinen Flächenverkauf gegenüber den Ausstellern hin zu einem Verkauf des Mehrwerts, den sie als Messe bieten können.
  • Umdenken vom Fokus auf den zahlenden Aussteller hin zu den Bedürfnissen der (bei Industriemessen größtenteils bislang nicht zahlenden) Besucher. Denn die Messen verlieren zunehmend die klassische Gatekeeper-Funktion (ähnlich wie die klassischen Fachmedien). Visitor Experience muss ins Zentrum aller Aktivitäten gestellt werden, denn wenn das Erlebnis/der Inhalt passt, sind Besucher auch bereit, angemessen dafür zu bezahlen – egal ob das Event live oder virtuell stattfindet.
  • Schaffung von digitalen Plattformen und Communities, deren Teilnehmer sich vernetzen, fachlich austauschen und Geschäfte anbahnen können, auch in der Zeit, in der die Messen gerade nicht stattfinden. Der austragende Ort und die Messezeit selbst verlieren an Bedeutung, wenn die global aktiven Zielgruppen von überall her auf die Inhalte zugreifen können. Messen werden zu Branchenplattformen, die 365 Tage im Jahr Austausch, Erlebnis und Geschäftsoptionen ermöglichen – mit dem physischen Event als Highlight und Möglichkeit des persönlichen Networkings.
  • Perfektionierung der Datengewinnung und -pflege. In der Breite und Tiefe, wie etablierte Messen Besucherdaten erheben und anreichern können, können Unternehmen dies allein meist nicht leisten. Durch die Schaffung digitaler Communities mit trackbaren, im Detail aussagekräftigen User-Profilen werden digitales Match-Making oder individualisierte Werbung für Aussteller interessant.
  • Aufbau eigener Content-Kompetenz. Bislang verlassen sich die meisten Messegesellschaften noch auf die Content-Lieferung durch die Aussteller/Verbände, bauen dadurch aber selbst nur bedingt Fachexpertise auf uns setzen kaum eigene Impulse. Genau das wird meiner Meinung nach aber in Zukunft gefragt sein, um User im Netz anzuziehen und kontinuierlich zu begeistern.
  • Eigene digitale Konzepte entwickeln. 2020 hat gezeigt, dass es nicht ausreicht, die bisherigen Konzepte einfach ins Digitale zu übertragen. Es muss genau überlegt werden, welche Formate besser physisch funktionieren, und, was besser digital umgesetzt werden kann. Sowohl den Besuchern als auch den Ausstellern muss es ermöglicht werden, den Messeauftritt/-besuch digital vorzubereiten und zu verlängern.
  • Messegesellschaften müssen kooperieren. Durch den globalen Wettbewerb und die Digitalisierung werden sich auch in der Messelandschaft Monopolstellungen herausbilden. Und wenn die Messegesellschaften diese globalen Plattformen nicht selbst auf die Beine stellen, dann wird es jemand anderes tun (wie schon in zahlreichen anderen Branchen geschehen). In Zukunft wird es vermutlich nicht mehr zig verschiedene Industriemessen zu exakt dem gleichen Thema geben, denn dem Besucher sind die Belange der Messegesellschaften egal. Dem Besucher geht es nur darum, wo er das beste Erlebnis/Ergebnis mit der besten User Experience bekommt.
  • Der Fokus muss auf inhaltlicher Qualität statt auf hohen Besucherzahlen liegen. Vor allem sehr fokussierte Events mit spitzer Zielgruppe haben 2020 und teilweise auch schon zuvor im B2B-Bereich auch virtuell sehr gut funktioniert (z.B. Konferenzen).

Das hört sich nach viel Arbeit an. Aber, ich denke, die deutsche Messewirtschaft ist gerade in punkto Industrie in vielen Bereichen in der Pole Position, um sich im globalen Wettbewerb durchzusetzen. 2020 hat zum einen gezeigt, dass es einige viel versprechende Alternativen zu klassischen Messen gibt, die nachweislich funktionieren (teilweise sogar besser und vor allem zu deutlich geringeren Kosten), zum anderen aber auch, dass sich die etablierten Vertriebswege bei erklärungsbedürftigen Produkten in der Industrie häufig noch nicht komplett ersetzen lassen. In diesem Sinne: Ich freue mich auf einen echten Kaffee mit Ihnen/Euch auf der nächsten hybriden Messe in 2021!